Die unsichtbare Nadel im stellaren Heuhaufen

19.07.2022

Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung des HITS entdeckte ein inaktives Schwarzes Loch in einem Doppelsternsystem außerhalb unserer Galaxie. Diese Schwarzen Löcher sind sehr schwer zu finden, weil sie keine Strahlung aussenden. Der Fund gelang bei der Datenauswertung einer sechsjährigen Beobachtung am Very Large Telescope (VLT) der Europäischen Südsternwarte (ESO), in deren Rahmen das Team fast 1000 Sterne untersuchte. Die Ergebnisse sind jetzt im Fachjournal „Nature Astronomy“ erschienen.

Kompositaufnahme von 30 Doradus im infraroten und im Radiowellenbereich. Credit:
ESO, ALMA (ESO/NAOJ/NRAO)/Wong et al., ESO/M.-R. Cioni/VISTA Magellanic Cloud survey: Cambridge Astronomical Survey Unit.

Sie nennen sich selbst die „Black Hole Police“, und ihr Ziel ist es, Schwarze Löcher im Universum zu entdecken und zu untersuchen: eine Gruppe von Astrophysiker*innen aus sieben Ländern. Sie haben nach jahrelanger detektivischer Arbeit ein inaktives Schwarzes Loch mit stellarer Masse identifiziert, das sich in unserer Nachbargalaxie, der Großen Magellanschen Wolke, befindet. Außerdem stellte das Team fest, dass der Stern, der das Schwarze Loch entstehen ließ, ohne Anzeichen einer starken Supernova-Explosion verschwand. Die Entdeckung basiert auf sechsjährigen Beobachtungen mit dem Very Large Telescope (VLT) der Europäischen Südsternwarte (ESO) und wurde jetzt im Fachjournal „Nature Astronomy“ publiziert.

„Wir haben eine ‚Nadel im Heuhaufen‘ gefunden“, sagt Erstautor Tomar Shenar (Universität Amsterdam), „VFTS 243 ist das erste ‚schlafende‘ Schwarze Loch mit stellarer Masse, das außerhalb unserer Galaxie entdeckt wurde.“ Es hat mindestens die neunfache Masse unserer Sonne und umkreist einen heißen, blauen Stern mit der 25-fachen Masse der Sonne. Um es zu finden, untersuchten die Forschenden fast 1000 massereiche Sterne im Tarantel-Nebel der Großen Magellanschen Wolke.

Künstlerische Darstellung von VFTS 243 im Tarantelnebel. Credit: ESO/L. Calçada

Schwarze Löcher mit stellarer Masse entstehen, wenn massereiche Sterne am Ende ihres Lebens unter ihrer eigenen Schwerkraft zusammenbrechen. In einem Doppelsternsystem entsteht dann ein Schwarzes Loch, das einen leuchtenden Begleitstern umkreist. Wenn diese schwarzen Löcher Materie von ihrem Begleitstern akkretieren, senden sie starke Röntgenstrahlung aus, ein „schlafendes“ Schwarzes Loch dagegen nicht. Deshalb ist es sehr schwer zu entdecken. Astronomen vermuten, dass es sehr viele schlafende Schwarze Löcher gibt – wahrscheinlich umkreist jeden hundertsten, massereichen Stern ein solches schwarzes Loch.

Beteiligt an der Studie war auch HITS-Gruppenleiter Fabian Schneider (Stellar Evolution Theory group), der als internationaler Experte für Sternentwicklung und binäre Systeme gilt. Wenn massereiche Sterne in Supernovae explodieren, kollabieren ihre Kerne und können Neutronensterne formen – eine Form ultrakompakter Materie. „In den meisten Fällen erhalten diese Neutronensterne einen ‚Kick‘ von mehreren hundert Kilometern pro Sekunde und werden von ihrem Explosionsort weg in den interstellaren Raum katapultiert“, erklärt Fabian Schneider. „Das Schwarze Loch in VFTS 243 erhielt keinen solchen ‚Kick‘. Das deutet darauf hin, dass sein Vorgängerstern direkt in ein Schwarzes Loch kollabierte, ohne Anzeichen einer starken Supernova-Explosion.“ Diese Erkenntnis wird dazu beitragen, die Entstehungsgeschichte der zahlreichen Verschmelzungen von Schwarzen Löchern zu verstehen, die dank der Gravitationswellenastronomie beobachtet wurden.

Das Team nutzte Beobachtungen, die sich über einen Zeitraum von etwa sechs Jahren erstreckten: Sie bestehen aus Daten des VLT FLAMES Tarantula Survey (VFTS; geleitet von Chris Evans, United Kingdom Astronomy Technology Centre, STFC, Royal Observatory, Edinburgh; jetzt bei der Europäischen Weltraumorganisation) aus den Jahren 2008 und 2009 sowie aus zusätzlichen Daten des Tarantula Massive Binary Monitoring Programme (TMBM; geleitet von Hugues Sana, KU Leuven) aus den Jahren 2012 bis 2014. Gemeinsam mit anderen Forschern traf sich das Forschungsteam vor kurzem am HITS zu einem Workshop, um den aktuellen Stand der Forschung und zukünftige Projekte zu diskutieren (https://www.h-its.org/de/2022/07/12/vfts-friends/ ). 

Mehr Informationen sowie Bild- und Videomaterial in der Pressemitteilung der ESO: https://www.eso.org/public/germany/news/eso2210/?lang

Publikation: Shenar T et al: An X-ray quiet black hole born with a negligible kick
in a massive binary of the Large Magellanic Cloud: Nature Astronomy, 18 July 2022. DOI: 10.1038/s41550-022-01730-y
https://www.nature.com/articles/s41550-022-01730-y

Über das HITS

Das HITS (Heidelberger Institut für Theoretische Studien) wurde 2010 von dem Physiker und SAP-Mitbegründer Klaus Tschira (1940-2015) und der Klaus Tschira Stiftung als privates, gemeinnütziges Forschungsinstitut gegründet. Es betreibt Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Informatik. Zu den Hauptforschungsrichtungen zählen komplexe Simulationen auf verschiedenen Skalen, Datenwissenschaft und -analyse sowie die Entwicklung rechnergestützter Tools für die Forschung. Die Anwendungsfelder reichen von der Molekularbiologie bis zur Astrophysik. Ein wesentliches Merkmal des Instituts ist die Interdisziplinarität, die in zahlreichen gruppen- und disziplinübergreifenden Projekten umgesetzt wird. Die Grundfinanzierung des HITS wird von der Klaus Tschira Stiftung bereitgestellt.

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