Das Beste aus zwei Welten

2.12.2019

KIMMDY ist da! Das neue Simulationsprotokoll kombiniert zwei in den Lebenswissenschaften etablierte Verfahren, um die Untersuchung von Bindungsbrüchen auf atomarer Ebene zu ermöglichen. Die Hybridmethode besteht aus Molekulardynamik Simulationen (MD), die die Wechselwirkungen und Bewegungen der Atome in Molekülen berechnen, und aus kinetischen Monte Carlo (KMC) Simulationen der zeitlichen Entwicklung chemischer Vorgänge. Der Vorteil dieser Hybridmethode gegenüber bereits bestehenden Methoden liegt vor allem in ihrer Effizienz, da nun mehrere zeitliche Größenordnungen überbrückt werden können. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Molecular Biomechanics (MBM) Gruppe am HITS haben die neue Methode namens KIMMDY (Kinetic Monte Carlo / Molecular Dynamics) entwickelt. Die Ergebnisse wurde nun im Fachjournal «Journal of Chemical Theory and Computation» veröffentlicht.

Proteine sind in ihrer natürlichen Umgebung immer wieder mechanischen Kräften ausgesetzt. Diese können zu mikroskopischen Bindungsbrüchen zwischen den Atomen führen, zum Teil sogar bevor die makroskopische Struktur überhaupt beschädigt wird. Mit konventionellen MD Simulationen können solche Brüche nicht berechnet werden, da bei diesen die kovalenten Bindungen zwischen Atomen fest vorgegeben sind und keine chemischen Reaktionen ablaufen. Zudem finden diese Bindungsbrüche auf Zeitskalen statt, die mit MD häufig nicht simuliert werden können. Bereits bestehende reaktive Methoden benutzen vor allem rechenintensive quantenmechanische Berechnungen (z.B. QM/MM) oder komplexe reaktive Kraftfelder (z.B. ReaxFF) und können daher nur kleinere oder spezifischere Problemstellungen lösen.

Diese Probleme werden durch KIMMDY nun gelöst, da verschiedene Simulationsmethoden miteinander kombiniert werden: Die Raten der Bindungsbrüche werden anhand der Distanzen zwischen den Atomen aus einer MD Simulation berechnet. Diese Raten wiederum werden dann für den Monte Carlo Schritt genutzt. So schließt sich die Lücke zwischen den mit beiden Methoden einzeln erreichbaren Zeitskalen.

Schematische Vergrößerung von Kollagen in der Achillessehne, bei welchem durch mechanische Kraft mikroskopische Risse entstehen können

Mit dieser neuen Technik ist es nun auch möglich Bindungsbrüche in Systemen mit mehreren Millionen von Atomen zu untersuchen. Mithilfe von KIMMDY konnte bereits gezeigt werden, dass sich in Kollagen (einem strukturgebenden Protein aus Haut, Knochen und Sehnen) die Bindungsbrüche nahe der chemischen Kreuzverbindungen häufen. Nach einem (homolytischen) Bindungsbruch in Kollagen, ausgelöst durch starke mechanische Kräfte, werden hochreaktive Radikale gebildet. Diese Stoffe könnten potenziell an einer Signalkaskade teilnehmen, die mechanische Kraft in oxidativen Stress umwandelt – eine Art Warnsignal im Körper, das zu weiteren Reaktionen führen kann. Mit KIMMDY lassen sich diese wichtigen Prozesse nun untersuchen. Die neue Methode lässt sich außerdem auf weitere biologische und nicht-biologische Materialien (z.B. Polymere), die unter mechanischer Krafteinwirkung stehen, anwenden.

Die jetzt veröffentlichte Publikation entstand im Rahmen der Masterarbeit von Wissenschaftler Benedikt Rennekamp am HITS und der Universität Heidelberg. Seit August 2019 ist er Doktorand am HITS in der Gruppe von Frauke Gräter und Mitglied der Max Planck School «Matter to Life».

Die neueste Version des Codes ist hier verfügbar.

Der Aritkel im Journal of Chemical Theory and Computation:

Hybrid Kinetic Monte Carlo / Molecular Dynamics Simulations of Bond Scissions in Proteins
Benedikt Rennekamp, Fabian Kutzki, Agnieszka Obarska-Kosinska, Christopher Zapp, and Frauke Gräter
Journal of Chemical Theory and Computation
DOI: 10.1021/acs.jctc.9b00786

Wissenschaftlicher Kontakt:

Prof. Dr. Frauke Gräter
Gruppenleiter „Molecular Biomechanics“
HITS – Heidelberg Institute für Theoretische Studien
E-mail: frauke.graeter@h-its.org

Über das HITS

Das HITS (Heidelberger Institut für Theoretische Studien) wurde 2010 von dem Physiker und SAP-Mitbegründer Klaus Tschira (1940-2015) und der Klaus Tschira Stiftung als privates, gemeinnütziges Forschungsinstitut gegründet. Es betreibt Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Informatik. Zu den Hauptforschungsrichtungen zählen komplexe Simulationen auf verschiedenen Skalen, Datenwissenschaft und -analyse sowie die Entwicklung rechnergestützter Tools für die Forschung. Die Anwendungsfelder reichen von der Molekularbiologie bis zur Astrophysik. Ein wesentliches Merkmal des Instituts ist die Interdisziplinarität, die in zahlreichen gruppen- und disziplinübergreifenden Projekten umgesetzt wird. Die Grundfinanzierung des HITS wird von der Klaus Tschira Stiftung bereitgestellt.

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